Als wir am frühen Nachmittag ins Zugrestaurant kommen, ist Sergej schon blau. Aber noch kann er zusammenhängende Sätze sprechen. Auch Sergej ist auf dem Nachhauseweg von irgendeiner Großbaustelle in Jakutien. Aber was heißt schon zuhause? Vor fünf Jahren hat ihn seine Frau verlassen, zusammen mit dem neugeborenen Sohn.
„Wir hatten alles: ein Häuschen, einen VW, alles war doch in Ordnung. Ich war glücklich. Und auf einmal alles – wusch – weg.“ Sergej fragt, ob wir trinken wollen. Ich bleibe lieber bei Bier. Dann trinkt er eben alleine, schüttet sich Wodka ein, „Tschischik“, mit einem fröhlichen Vögelchen drauf. Aber alleine trinken, das ist nicht fröhlich. Egal, ob in Russland oder Deutschland.
„Ich würde mir so wünschen, dass ich nach Hause komme, da steht sie und der Sohn, und sie begrüßen mich.“
Das Häuschen hat Sergej verkauft, für ein Viertel des echten Preises. War ihm scheißegal. Fahrig wischt er mit der Hand einmal durch die Luft. Alles weg. Jetzt verdient er einen Haufen Geld, 80.000 Rubel (1100 Euro), aber keinen Plan, was er mit dem ganzen Geld anstellen soll. Er lehnt sich nach vorne, flüstert mir ins Ohr: „Ich geb alles für Prostituierte aus.“
Dann sackt er wieder in sich zusammen. Sergej, willst Du es nicht nochmal mit einer anderen probieren? Du bist doch erst Ende vierzig. „Ich lieb sie doch noch immer“. Jetzt füllen sich seine Augen mit Tränen, der 47-Jährige sieht jetzt aus wie ein kleiner Junge. „Ich würde mir so wünschen, dass ich nach Hause komme, da steht sie und der Sohn, und sie begrüßen mich.“ Ich klopfe ihm auf die Schulter. Aber was willst du da sagen? Wird schon wieder?
„Ryschij“, der Rothaarige, rettet die Situation. „Ryyyyyschij“, brüllt Sergej. Ryschij, Typ Spaßvogel, fast kahlgeschorener Bauarbeiterkumpel von Sergej, setzt sich zu uns, holt noch eine Flasche. Sergej versucht, sein Telefon über Bluetooth an die Box von Lena, der Kellnerin, anzuschließen. Ich helfe ihm. Dann kommt Sergejs Musik, „Schanson“, abgeleitet vom französischen „Chanson“, aber etwas ganz anderes. Eher Ganovenmusik, nur von Männern mit rauher Stimme gesungen, einfache Akkorde, „Mama, warte nicht auf mich, ich muss ins Gefängnis, das ist mein Schicksal“ undsoweiter. „Hör gut zu, das ist genau über mein Leben“, sagt Sergej bei jedem zweiten Lied. Aber seine Worte gehen schon ins Lallen über, sein Kopf bewegt sich schwerfällig hin und her. Draußen ziehen sibirische Flüsse vorbei, noch mit Schnee bedeckte Berge, kleine Siedlungen.
Irgendwie kommen wir auf das Thema Armee, es kommt raus, dass beide in Tschetschenien gedient haben, 1999-2001, als dort der zweite Krieg begann. Sergej lallt von den Misshandlungen durch die älteren Soldaten während der Ausbildung. Er ist vielleicht einssechzig groß, man kann sich vorstellen, wie schwer es Jungs wie er da hatten. „Geschlagen haben sie uns, jeden Tag“, dazu hält er die Hände über den Kopf, als müsste er sich jetzt noch schützen vor den Schlägen. „Klar haben sie uns geschlagen, aber hey, warum redest du so viel davon“, sagt Ryschij, und lacht. „Vorbei, lieber nicht dran erinnern.“ Ryschij macht sich lieber Gedanken darüber, ob er den teuren Whiskey kaufen soll, die Kellnerin Lena hat ihm versprochen, dass sie später mit ihm einen trinkt.
Ryschij schüttet noch einen ein für Sergej, aber der ist jetzt schon so fahrig, dass er sein Glas umschmeißt. Wodka fließt über den Tisch. Jetzt, das sagt mir meine Erfahrung, wird es Zeit, zu gehen. „Sergej, geh lieber schlafen“, versuche ich es noch. Aber das Drama nimmt seinen Lauf.
Wir sitzen noch an anderen Tischen, trinken mit Arbeitern, die auch besoffen, aber nicht so verzweifelt sind wie Sergej. Hin und wieder taucht er auf im Bild, versucht, sich an Tische zu setzen, wird weggescheucht wie ein streunender Hund. An der nächsten Haltestelle versperrt er den Weg zur Tür, aus Versehen. Ein Arbeiter versetzt ihm eine heftige Backpfeife, Sergej wankt.
Am Morgen erfahren wir von der Kellnerin Lena, dass Sergej an der nächsten Station von der Polizei abgeholt wurde. Ausnüchterungszelle, Strafe zahlen, neues Ticket kaufen. Nach Hause?
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