Der ehrliche Ilja

„Mein Leben ist nicht geradlinig. Es ist schwierig, mit Löchern, mit Hügeln, mit Fallen. Ich habe Ende der 90er Jahre in Tadschikistan als Zeitsoldat gedient. Wir haben da Flughäfen und andere Objekte der russischen Armee überwacht. Da habe ich gelernt, dass das Leben nicht gut ist. Es kann sehr schlecht sein. Hör zu. Ich erzähle dir drei Geschichten.“

 

 

Geschichte 1

„Wir kommen in ein Dorf der Tadschiken, die Häuser sind aus Erde, Stroh und – ich entschuldige mich für den Ausdruck – Scheiße. Da steht ein Kind an der Straße, man erkennt überhaupt nicht, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist oder wie alt es ist, so dreckig und verlaust ist es. Der Vater kommt raus und sagt: Nehmt es mit nach Russland, ich kann nicht für sie sorgen. Wir waschen sie, geben ihr neue Kleidung, plötzlich sehen wir, dass sie sehr hübsch ist. Aber sie ist erst 16! Ich würde sie gerne nach Russland mitnehmen und heiraten, Pass ist kein Problem – den konnte man damals für 200 Dollar kaufen. Aber sie ist erst 16! Da komm ich doch ins Gefängnis. Und es wird sehr viele Fragen geben. Sehr viele Fragen…“

Geschichte 2

„Wir sind auf einer Übung an einem Pass, an dem Tadschikistan, Kirgisien und Usbekistan aneinander grenzen. Eines Tages gibt es Alarm. Ich sehe durch das Fernrohr meines Panzerwagens eine Gruppe von Menschen, die über den Pass kommen. Wir bekommen den Befehl, zu schießen. Wir schießen mit allem, was wir haben, schwere Maschinengewehre, Raketen. Ich konnte durch das Fernrohr aber nicht erkennen, wer das war. Aber da ist sicher niemand am Leben geblieben. Stell dir das mal vor: Du bist auf einer Übung, und dann schießt du mit scharfer Munition! Erst einen Monat später sehe ich dann im russischen Fernsehen einen Beitrag darüber, dass im Grenzgebiet eine Bande elimiert wurde. Und da sehe ich mein eigenes Fahrzeug auf dem Bildschirm. Was war das? Terroristen, Schmuggler? Keine Ahnung bis heute.“

Geschichte 3

„Dort war alles voll mit Drogen. Als ich zum ersten Mal in Tadschikistan ankam, ging ich in der Kaserne auf die Toilette. Da lag ein Alulöffel. Hab ich nicht verstanden. Auch in der nächsten Kabine, und in der nächsten. Überall. Ich hab gedacht: Essen die da ihre Scheiße mit Löffeln oder was? Erst später habe ich verstanden, was das mit den Löffeln auf sich hat.
Ein Soldat war heroinabhängig und schuldete den Bewohnern der Umgebung nach einer Weile so viel Geld, dass sie ihn umbringen wollten. Man hat ihn dann in eine Kiste gesteckt und als Sondertransport zum Flughafen gebracht. Und erst als das Flugzeug in Moskau war, hat man ihn rausgelassen. Ein anderer Soldat wollte Geld verdienen, hat Heroin in Plastiktüten geschluckt und ist in Heimaturlaub geflogen. Da haben sie ihn geschnappt – 15 Jahre Gefängnis. Bei einem anderen hat es geklappt – und nach einem halben Jahr hat er uns geschrieben: „Leute, ich hab geheiratet, ein Auto und ein Haus gekauft.“ Und das für 700 Gramm Heroin! Ich habe aber immer die Finger davon gelassen, auch wenn mir das niemand glauben will.
Wir haben dort auch bestimmte Leute bewacht. Ich habe zusammen mit einem anderen Soldaten auf den Direktor der russischen Schule aufgepasst. Der ruft eines Tages einen Geschäftsmann an und sagt: Kannst Du mir 2000 Dollar leihen? Der antwortet ihm: Nein, hab ich gerade nicht. Aber fahr bei mir zu Hause vorbei, da liegt ein Kilo Heroin. Gib mir das Geld, wenn Du es hast. Kein Witz! Bei dem Telefongespräch war ich selber dabei.“

„Ich war drei Jahre dort. Wäre ich doch da geblieben! Da war man wenigstens ein richtiger Soldat. Stattdessen habe ich mich in die Nähe von Moskau versetzen lassen, da war ich in einem geheimen unterirdischen Stützpunkt eingesetzt. Aber da war es fürchterlich. Ich musste Boden wischen, kehren. Ich hab mich wie ein Straßenkehrer gefühlt. Aber ich bin doch Soldat! Bin in die Armee gegangen, um meinem Land zu dienen, um zu bewachen, um zu schießen. Diese Art von Dienst hat mir nicht gefallen.

Ich bin dann nach drei Jahren zurück hierher und habe in einem Sägewerk gearbeitet. Und habe angefangen zu saufen. Fürchterlich zu saufen. Ich habe so gesoffen, dass ich fast gestorben wäre. Jahrelang. Ich habe so gesoffen, dass ich sogar im Winter draußen im Schnee eingeschlafen bin.
Der Direktor des Sägewerks hat zu mir irgendwann gesagt: Junge, ich helfe Dir, vom Saufen loszukommen. Geh nach Hause und trink eine Woche nicht.
Das habe ich gemacht. Dann kam er zu mir und hat gesagt: Pack deine Sachen und steig ins Auto. Ich hab gesagt: Warum? Er: Du stellst zu viele Fragen.
Wir sind nach Kasan gefahren. Da hat er mir eine Wohnung gemietet, wo ich drei Tage lang gewohnt habe, hat den Arzt bezahlt. Jeden Tag bin ich zum Arzt gegangen. Er hat mir Dinge erzählt und gezeigt, irgendwie beeinflusst. Am letzten Tag hat er gesagt: Mach die Augen zu. Dann hat er mir etwas in den Mund gespritzt. Mir wurde total übel, aus allen Körperöffnungen. Aber danach bin ich rausgegangen – und verspürte einen unglaublichen Drang nach einer Frau.
Seitdem trinke ich nicht mehr, keinen Tropfen, seit zwölf Jahren. Ich kann am Tisch sitzen mit jemandem, der trinkt, aber ich verurteile ihn nicht. Er ist genauso ein Mensch wie ich.
Jetzt ist mein Leben mal besser, mal schlechter. Aber dass ich nicht mehr trinke, das ist eine große Sache. Ich habe jetzt wieder Verstand, ich weiß wieder, was gut und was schlecht ist. Das wusste ich auch, bevor ich mit dem Trinken angefangen habe. Aber wenn du trinkst, weißt du es nicht mehr.
Mein Direktor, der ist übrigens ein ehemaliger Armeeangehöriger, ein Offizier, der ist wahrscheinlich ein Heiliger. Ich bin ihm unendlich dankbar.“

„Mann mann mann, wenn ich nicht so viele Fehler gemacht hätte, ich bin sicher, dass ich ein General hätte werden können. Aber das hatte sich schon erledigt während meiner Zeit an der Militärschule. Ich hab die Mädchen sehr geliebt, und eines Tages hatten wir mal wieder Freigang. Es war nicht mehr viel Zeit, aber meine Kameraden sagten: Geh ruhig, wir decken dich. Also bin ich los und kam zu spät in die Kaserne zurück. Dafür wurde ich rausgeschmissen. Die Kameraden haben mich nicht gedeckt. Warum sie das gemacht haben? Das war eine Militärschule, an der die meisten anderen einflussreiche Eltern hatten. Und ich komme aus dem Dorf, meine Eltern sind einfache Leute.
Ich habe einen Sohn, der ist aber ein echter Streber. Ich hätte gerne, dass er ein echter Mann wird, aber der will immer nur lesen, lesen, lesen. Aber was willst Du machen? Vielleicht ist es auch besser so.“

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