Raus aus Moskau!

Er hätte es einfacher haben können. Aber Roman Kushniarou, 33, sitzt jetzt hier in drei Metern Höhe auf einer Eiche und versucht, mit einer Schnur einen Holzkasten in einer Astgabel zu fixieren. So will er ein ausgebüchstes Bienenvolk wieder einfangen. Unter ihm stapft gerade eine Kuhherde aus dem benachbarten Bauernhof vorbei, die kirgisischen Hirten betrachten neugierig-amüsiert, wie dieser drahtige junge Mann auf dem Baum es jetzt auch noch hinbekommt, sein klingelndes Smartphone aus der Tasche zu ziehen und einen Anruf zu beantworten.

Wir sind etwa 100 Kilometer südlich von Moskau, eine halbe Stunde von der Kleinstadt Tarusa entfernt. Auf einem von Birken zugewachsenen Feld versucht Roman zusammen mit ein paar Mitstreitern ein neues Leben aufzubauen. Es ist ein steiniger Weg.

„Ich habe dieses Bild im Kopf: Es ist heißer Sommer, der Tau auf den Gurken,
und wenn du den Wasserschlauch aufdrehst, gibt es einen Regenbogen.“ Roman Kushniarou

Bis 2015 lebte Roman in Köln: Der talentierte Klarinettist aus Minsk hatte dort Musik studiert und war jahrelang als Mitglied eines Ensembles um die Welt getourt, sein Glanzstück war Mozarts Klarinettenkonzert. Eigentlich war das Leben in Ordnung, nahm aber eine überraschende Wendung, als er in Thailand seine spätere Frau Mascha kennenlernte. Maschas Freunde, Lehrer für Kontaktimprovisation, eine Art Jazz im Bereich Tanzen, träumten wie Roman von einem Leben im Ökodorf. Also machten sie sich gemeinsam auf die Suche nach einem geeigneten Ort zum Nestbau.

So ungewöhnlich ist das, was Roman und seine Freunde tun, nicht: Nach dem englischen Vorbild nennen die Russen ihre Flucht aus dem Großstadtleben „Downshifting“. Auf Goa und sonstwo in Asien gibt es inzwischen ganze Kolonien von Russen, die lieber in wärmeren Gefilden leben. Die einen eröffnen Hostels, die anderen arbeiten weiter als Programmierer – aber eben mit einem Caipirinha am Strand und nicht im Büro im kalten Russland.
Wer aber in Russland aussteigen will, der wählt den Weg ins Dorf. Viele Downshifter folgten in den letzten zwei Jahrzehnten der religiösen New-Age-Sekte „Klingende Zedern“: Inzwischen gibt es mehrere hundert solcher Siedlungen von Smolensk bis Wladiwostok. Mit Sektiereren haben Roman und seine Freunde aber wenig gemeinsam.

Außer vielleicht das romantische Bild vom Dorfleben, das viele Russen aus ihrer Kindheit mitgenommen haben: Die langen drei Monate der Sommerferien verbrachten die meisten Stadtrussen, die heute um die dreißig sind, bei der Babuschka. In vielen Fällen lebten die Großeltern tatsächlich noch auf dem Dorf, im Fall von Roman immerhin auf der Datscha. „Ich habe dieses Bild im Kopf: Es ist heißer Sommer, der Tau auf den Gurken, und wenn du den Wasserschlauch aufdrehst, gibt es einen Regenbogen“, erzählt Roman und lacht selbst über diese idealisierten Kindheitserinnerungen. Andererseits: Ohne sie wäre er jetzt nicht hier.

Wie die Biber aus dem Fluss Tarusa wollen Roman und seine Freunde sein: arbeitsam und sozial.

Hier, das ist der Ökobauernhof „himmlische Biber“. Den Namen haben sie gewählt, weil im Flüsschen Tarusa tatsächlich Biber leben, „arbeitsam und sozial“, wie auch Roman und die anderen sein wollen. Und „himmlisch“, weil sie aus der Stadt kommen, Musiker und Tänzer sind und gerade erst hier gelandet sind.
Weil sie gerade erst gelandet sind, ist auch das Wort „Bauernhof“ wohl noch etwas zu hoch gegriffen. Die 21 Hektar Feld, die sich die jungen Enthusiasten 2015 für umgerechnet 80.000 Euro kauften, sind noch zum Großteil von Birken bewachsen, die in den letzten 25 Jahren, als das ehemalige Kolchosenfeld nicht mehr bewirtschaftet wurde, alles überwucherten.
Zwischen den Birken steht nun eine Sommerküche und ein Essenshäuschen, wo gerade internationale Freiwillige kiloweise Teeblätter durch einen Fleischwolf drehen. Die „volunteers“, die ihren Weg zu den Bibern über die Seite „WorkAway“ finden, sind fester Bestandteil des Lebens unter den Birken. Gerade sind Ghini aus Schanghai, Ann aus Südkorea, Manita aus Thailand, Alex aus Südafrika, Sofia aus Belarus, José aus Peru, Eva aus Deutschland sowie Christoph und Livia aus der Schweiz auf Arbeitsurlaub. Die Schweizer sind auf Fahrrädern unterwegs nach China und haben hier eine Pause eingelegt. „Das geht hier schon recht langsam voran“, sagt Christoph aus Luzern, der seinen letzten Sommer bei Ziegenbauern in der Schweiz verbracht hat. „Die Jungs sind noch viel am Experimentieren.“

Oleg studierte Gerätebau für die Kosmonautik, dann Psychologie, organisierte Teambuilding-Fortbildungen für Firmen, zuletzt gründete er ein „Anticafé“ in Moskau, das Raum bieten sollte für allerlei kreative Unternehmungen.

Eines der Experimente ist Romans Wohnhaus, das er selber geplant und mit Helfern gebaut hat: unten die Küche, ein Winterstall für die paar dutzend Ziegen und angegliedert ein Gewächshaus, oben die Schlafräume.

Oleg Frolow, seine Frau Natascha und das kleine Baby wohnen in einem anderen kleinen Häuschen. Roman beschäftigt sich mit den Ziegen und seinen Bienen, Oleg ist für die Landwirtschaft verantwortlich. Auf einem Teil des Feldes, etwa einen Hektar groß, baut er in langen Reihen Salat, Koriander, Tomaten und anderes Gemüse an. Sogar einige Gewächshäuser stehen auf dem Feld, aber was da wächst, wirkt etwas unorganisiert. Gerade hat Oleg die Radieschen geerntet – die sind leider zu scharf geworden und können deshalb nicht verkauft werden. „Wir machen viele Fehler,“ sagt Oleg, ein freundlicher Mittvierziger, nachdenklich. Er hat ein buntes Leben geführt: Erst studierte er Gerätebau für die Kosmonautik, dann Psychologie, organisierte Teambuilding-Fortbildungen für Firmen, zuletzt gründete er ein „Anticafé“ in Moskau, das Raum bieten sollte für allerlei kreative Unternehmungen. Es scheiterte krachend. Dann zog er auf‘s Land.

Was Oleg über Landwirtschaft weiß, hat er zum einen von seiner Oma aus dem Moskauer Umland, die im Sommer täglich ein paar Eimer Himbeeren auf ihr Fahrrad lud und an einer Moskauer Metrostation verkaufte. Er hat viel über organische Landwirtschaft im Internet gelesen, aber so richtig weiter gebracht hat ihn das nicht. „Was da steht, ist sehr, sehr widersprüchlich“, sagt Oleg. Am wichtigsten ist für ihn deshalb eine Moskauer Expertin für organische Landwirtschaft, die er für die Beratung bezahlt.

Nach einem Trommelfestival bekamen die "himmlischen Biber" Besuch von den lokalen Behörden. Seitdem haben sie die Neuankömmlinge auf dem Kieker.

Aber langsam geht es voran. Heute hat Oleg ein paar Dutzend frische Salatköpfe in den Kofferraum seines alten Japaners geladen und macht sich auf nach Moskau. Bisher hat er vor allem an den Internetshop eines anderen Bauers verkauft. Aber heute liefert er zum ersten Mal eine Probepartie an „Lawka-Lawka“, eine Moskauer Kooperative, die ihre Lieferanten überprüft und deshalb einen besonders guten Ruf genießt. 40.000 Rubel, etwa 600 Euro, kostet es, wenn Lawka-Lawka einen Experten schickt, der die Produktion überprüft. „Aber wenn du das Zertifikat hast, ist das sehr gut für dein Image“, erklärt Oleg.

Gerade in diesen Wochen ist das russische Parlament dabei, nach jahrelangen Lippenbekenntnissen ein Gesetz zur Regulierung des Bio-Marktes zu erlassen. Denn „Bio“, „ökologisch sauber“ und Ähnliches schreibt momentan jeder auf seine Lebensmittel, ohne einen Beweis dafür bringen zu müssen. Die eigene Zertifizierung von Lawka-Lawka zeigt, dass die Privatwirtschaft lieber selbst handelt, als lange auf den Gesetzgeber zu warten.

Auch mit den lokalen Behörden hatten die „himmlischen Biber“ einen denkbar schlechten Start. Fester Bestandteil ihres Lebens sind kleine Festivals an den Wochenenden, auf denen meditiert, Musik gemacht, getanzt wird. Gleich im ersten Sommer folgten einige Dutzend Trommler dem Ruf in die Natur, und obwohl das nächste Dorf einige Kilometer entfernt liegt, beschwerten sich die aufgeschreckten Nachbarn danach bei der Polizei. Wenig später kam der Agrarbeauftragte des Gebietes und erinnerte die himmlischen Biber freundlich aber bestimmt daran, dass hier in erster Linie Landwirtschaft stattfinden solle – und keine wilden Hexenmessen. Seitdem hat die Verwaltung sie auf dem Kieker. In diesem Jahr erteilten Roman und Oleg deshalb Moskauer Freunden, die hier ein Goa-Festival abhalten wollten, eine Absage. Obwohl sie gut daran verdient hätten.
Im letzten Jahr bekamen die himmlischen Biber eine Strafe dafür, dass ein zu kleiner Teil des Feldes bestellt wird. Seitdem rodet Oleg nach und nach Birken mit einem Traktor.

"Wir gehen bis zum Ende." Roman Kushniarou

Nach drei Jahren Experimenten stellt sich die Frage, ob man wirklich davon leben kann, was sie hier machen. Das Ersparte neigt sich dem Ende, Oleg und seine Frau Natascha haben gerade ein kleines Baby bekommen. Roman verdient zwar nebenher als Musiklehrer im Nachbarstädtchen Tarusa ein paar Rubel, aber seine Frau Mascha, die gerade ein Tanzseminar in London leitet, fragt ihn immer öfter, ob die „Himmlischen Biber“ denn Zukunft hätten. „Aber wir gehen bis zum Ende“, sagt Roman überzeugt.

Es ist schon Mitternacht, von draußen hört man die Grillen zirpen. Drinnen rumpelt ein sowjetischer Kühlschrank, aus dem Roman zwei Fünf-Liter-Gläser mit Ziegenmilch nimmt und den Inhalt in einen Topf auf dem Gasherd schüttet.
„Am Anfang hatten wir nur kleine Zicklein. Und sie sind herumgerannt auf der Suche nach den Müttern, die ihnen beibringen, ob man dieses Gras essen kann, ob man dorthin laufen darf oder nicht“, erzählt Roman. „Ich fühle mich genauso wie diese Zicklein. Wir probieren alles mögliche aus – und manchmal wäre es gut, eine Oma oder einen Opa zu haben, die einem erklären können, wie etwas geht.“ Die Milch kocht jetzt, Roman gibt ein paar Tropfen Essig dazu. Sie klumpt sofort, und Roman seiht die Molke ab. Dann schüttet er Zimt und Minze zum Käse dazu, mischt ihn, presst ihn aus und trägt ihn stolz auf den Tisch zu den anderen. „Mein erster eigener Käse, probiert mal!“ Dieses Experiment ist geglückt. Morgen wird er ihn in Tarusa an die Eltern seiner Musikschüler verkaufen.

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