Hungern während der WM

Gerade gelandet in Moskau, verbringen wir den ersten Abend in Russland bei Schura Burtin, dem Ehemann einer Freundin. Am 1. Juni hatte er auf Facebook geschrieben, dass er keine Lust mehr habe, nur stumm jeden weiteren Tag zu verfolgen, den der ukrainische Filmregisseur Oleg Senzow im Hungerstreik verbringt, 3500 Kilometer entfernt von hier im Straflager Labytnangi nördlich des Polarkreises. Und dass er nun selber in Hungerstreik trete.

Wieviele Freunde oder Bekannte habt ihr so, die schonmal in Hungerstreik getreten sind? Heilfasten, mit Verlaub, zählt nicht.

Andererseits: Was hat das mit der WM zu tun, fragt ihr euch vielleicht? Die Antwort ist: sehr viel.

Ich habe inzwischen verstanden, dass es ein Spiel ist, und Senzow einer der Spieler. Schura Burtin

Dieser Hungerstreik kommt ja nicht von ungefähr. Für den Ukrainer Senzow, der nach der Krim-Annexion festgenommen und 2015 wegen der angeblichen Planung eines Terroranschlags zu 20 Jahren verschärfter Lagerhaft verurteilt wurde, ist das nun beginnende Turnier DIE Chance, die Welt auf seine Situation und die weiterer 24 politischer Gefangener aus der Ukraine in russischen Gefängnissen, soviel hat zumindest Memorial gezählt, aufmerksam zu machen. Senzow hungert im übrigen nicht für sich selbst, sondern für die Freilassung der anderen.

Und der ohnehin dürre Schura, Jahrgang 1972, ist nun noch ein paar Kilo leichter geworden, sein Leinenpulli schlackert an seinem Körper. Jetzt steht er in seiner Küche in dieser alten Moskauer Wohnung an der Roschdestwenskaja-Straße, von deren Backsteinwänden hier und da der Putz abblättert, aber die gerade dadurch Gemütlichkeit ausstrahlt, hier steht er also und presst Orangen aus. „Orangensaft soll gut sein nach einem Hungerstreik, habe ich gelesen.“ Eine Woche hat er durchgehalten. Er konnte dann kaum noch aufstehen und hat für sich entschieden: „Ich bin nicht bereit, noch weiter zu gehen.“ Immerhin hat Schura vier Kinder. Der älteste Sohn, schulterlange Haare, sitzt auf einem Sitzsack in der Ecke und hört interessiert zu. Überrascht davon, dass sein Vater einen Hungerstreik veranstaltet, scheint er nicht zu sein.

Schura selbst sitzt mit angezogenen Beinen auf seinem Stuhl, mit wachen Augen hört er zu, blickt dann grübelnd vor sich hin und sagt: „Ich habe inzwischen verstanden, dass es ein Spiel ist, und Senzow einer der Spieler. Aber es geht doch trotzdem um Leben und Tod. Wer das ignoriert, der ist einfach unmenschlich.“

Eigentlich ist Schura ja Journalist. Aber in den vergangenen Jahren war er alles mögliche – vom Taxifahrer bis zum Schreiner. Texte schreibt er nur noch sehr selten, zwei oder drei im Jahr. Immer dann, wenn es ihm um etwas geht, wenn er hofft, den Gang der Dinge verändern zu können. In Russlands großstädtischer Intelligenzia gibt es die Lamenteure, die sich ständig über Putin mokieren und auf Facebook ihren Dampf ablassen. Es gibt solche, die Geld sammeln für schwerkranke Kinder, deren Eltern sich eine Operation nicht leisten können, es gibt solche, die für Mülltrennung kämpfen. Und es gibt jene, die ihre Energie darauf verwenden, zumindest einzelne Menschen im letzten Moment aus dem Rachen der staatlichen Maschine zu ziehen.

Einen hat Schura schon gerettet in diesem Jahr: Im letzten Sommer schrieb er einen ellenlangen Text über den karelischen Gulag-Erforscher Juri Dmitrijew, den die lokalen Behörden mit konstruierten Pädophilievorwürfen in den Knast schicken wollten. Der leidenschaftliche, berührende Text schlug Wellen in Moskau und bis ins Ausland (hier die deutsche Übersetzung), und vor wenigen Wochen wurde Dmitrijew tatsächlich freigesprochen.

Gerade kommt er zurück aus Tschetschenien

Und gerade kommt Schura in ähnlicher Mission aus Tschetschenien zurück: Dort sitzt seit Januar Ojub Titijew, der „last man standing“ der Menschenrechtsorganisation „Memorial“, in Untersuchungshaft. In seinem kleinen Büro im Zentrum von Grosny war er die letzte Hoffnung, die letzte Kontaktperson, an die sich jene wenden konnten, die von den dortigen Behörden misshandelt werden. Auch ich traf ihn letztes Jahr bei meinen Recherchen in Grosny, und die Chuzpe dieses Mannes und gleichzeitig seine Ruhe beeindruckten mich. Im Januar nun wurde er festgenommen, weil die Polizei Marihuana in seinem Auto gefunden hat – ein beliebter Trick der dortigen Machthaber, um ungenehme Leute loszuwerden. In der Republik munkelt man, dass sei die Rache des Machthabers Ramsan Kadyrow gewesen dafür, dass Facebook ihm mit der Sperrung seines Instagram-Kanals sein liebstes Spielzeug und politisches Instrument genommen hatte. An Zuckerberg konnte sich Kadyrow nicht rächen, also musste Titijew büßen. „Aber ehrlich gesagt: Wir waren glücklich, als wir erfuhren, dass Ojub nur im Gefängnis sitzt und nicht umgebracht wurde“, sagt Schura in Moskau. Schura hat allerdings wenig Hoffnung, Ojub bald aus dem Gefängnis zu bekommen: Tschetschenien ist ein anderes Pflaster als Karelien. Aber mit seinem Artikel will er zumindest dafür sorgen, dass ein paar mehr Leute von Ojub erfahren.

Im Falle Senzows hat Schura nach einer Woche verstanden, dass sein Hungerstreik wohl wenig ausrichten wird. Auch weil neben vielen Freunden, die ihn lobten, andere ihn dafür kritisierten, dass er sich instrumentalisieren lasse in einer politischen Kampagne. Am Ende werde nur ein Gefangenenaustausch zwischen der Ukraine und Russland ihn retten, glaubt er nun. „Putin ist Senzows Leben egal. Aber auch die ukrainische Regierung hat gar kein wirkliches Interesse an ihm als Mensch. Für sie ist ein Senzow im Gefängnis nützlicher als ein Senzow in Freiheit“, ist der Moskauer überzeugt. Denn auch in der Ukraine gebe es politische Gefangene: Die Stiftung „Zentrum der Meinungsfreiheit“ hat eine Liste mit Dutzenden, die allerdings von dem Kriegsdienstverweigerer bis zu solchen reicht, die tatsächlich separatistische Organisationen gegründet haben. Kurz vor dem Ende seines Hungerstreiks hat Schura sich mit einem Pappschild fotografieren lassen: „Ukraine und Russland, lasst die politischen Gefangenen frei“, steht darauf.

Spät am Abend kommen noch Schuras Freunde zu Besuch, bringen einen riesigen geräucherten Fisch mit. Wir diskutieren darüber, wie unterschiedlich die Erfahrungen eines Deutschen und eines Russen in den 90ern waren, trinken Whiskey und essen Fisch. Oleg Senzows Hungerstreik geht an diesem Donnerstag, wenn in Moskau mit Russland gegen Saudi-Arabien die WM eröffnet wird, in den zweiten Monat. Ab da, so hat Schura gelesen, wird die Gefängnisbehörde ihn zwangsernähren lassen.

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