Nirgendwo auf unserer Reise schlägt Christian und mir ein solches Interesse entgegen wie in Tjumen. Allein schon der Start. Wir steigen aus dem Zug aus und ein Mann um die 60 spricht uns an: „Wo wollt ihr hin? Ich kann euch umsonst mitnehmen.“
Erst glaube ich ihm nicht – vielleicht ein besonders cleverer Taxifahrer-Trick? – aber dann sage ich ja. Alexander lädt unseren Kram in seinen japanischen Jeep und wir fahren in den warmen Abend von Tjumen. Alexander ist ehemaliger Polizist, bessert seine miserable Rente (etwa 250 Euro) auf, indem er Käfige für Tiere baut. Das meiste verdient er aber mit einem Tierhotel, wo die Tjumener ihre Haustiere abgeben können. „Jetzt im Sommer ist Saison für uns – und im Herbst fahren wir dann selber in Urlaub. Mal sehen: Vietnam, Ägypten oder Bali.“
Okay.
Offenbar gibt es in dieser Stadt genügend Kundschaft, um mit diesem Business ordentlich Geld zu verdienen. Das klingt eher nach Moskau. Alexander lädt uns am Hostel „Muesli“ ab.
Wie hat es diese Stadt, in der erst Ende Juni der Flieder blüht und wo schon im September der erste Schnee fallen kann, unter die Top-3 der russischen Städte geschafft?
Warum sind wir überhaupt in diese 750.000-Einwohnerstadt gefahren, knapp 2000 Kilometer östlich von Moskau?
Vor einigen Jahren las ich ein Ranking im Magazin „Russkij Reporter“, das die Lebensqualität russischer Städte bewertete. Und ebenso wie die Redaktion wunderte auch ich mich darüber, dass diese Stadt in Sibirien, von der ich nicht mehr als den Namen kannte, es unter die Top-3 (Moskau und St. Petersburg laufen in diesen Rankings außer Konkurrenz) geschafft hatte, neben dem südrussischen Krasnodar und der Metropole Kasan. Tjumen, das so weit nördlich liegt, dass erst jetzt, Ende Juni, Flieder und Jasmin blühen, und wo schon im September der erste Schnee fallen kann.
Nun schauen wir uns das Wunder von Tjumen mit eigenen Augen an. Man spürt förmlich – ganz besonders im Kontrast zu der ähnlich gelegenen Stadt Omsk, woher wir gerade kommen – wieviel Geld aus dem Öl- und Gas-Geschäft hier unterwegs ist. In der Gegend selbst gibt es keine Ölquellen, aber die hunderttausenden gut verdienenden Menschen, die in den weiter nördlich gelegenen Öl- und Gasstädten arbeiten, haben hier eine Wohnung, lassen ihre Kinder studieren, erholen sich von den Strapazen des Lebens in den Städten am Polarkreis.
Oder sie arbeiten in den Forschungsabteilungen der großen Öl- und Gaskonzerne. Fachleute verdienen im Schnitt 1500-2000 Euro – umgerechnet in Rubel ein sehr ordentliches Gehalt.
Auf den Straßen fahren fast nur westliche Autos, an jeder Ecke gibt es Karaokebars, Restaurants, im Zentrum dreht sich ein Riesenrad, und an den warmen Sommerabenden fährt die Jugend bis tief in die Nacht mit Fahrrädern oder auf Skateboards durch die Stadt.
Der Wohlstand kam mit den explodierenden Ölpreisen der Nullerjahre in die Stadt – vorher war die Stadt eine gesichtslose, graue sowjetische Siedlung für all jene, die nach Öl und Gas suchten. Zeugnisse des Geldüberflusses der Jahrtausendwende sind ein geschmackloser metallener Triumphbogen am Eingang zum Vergnügungspark von Tjumen, Hotelfassaden aus Spiegelglas und Springbrunnen. Aber das Geld wurde eben auch in die Stadtentwicklung gesteckt. So gute Straßen wie hier haben wir sonst nur in Moskau gesehen, die breiten Gehwege sind gepflastert, auch die meisten Wohnhäuser der Stadt sind in ausgezeichnetem Zustand. Kurzum: Den Menschen geht‘s gold.
Aber was kommt nach dem großen Fressen? Es ist eine Frage, die sich die Menschen in Deutschland nach den fetten Konsumjahren der Nachkriegszeit stellten – und an der sich bis heute viele quälen. In Moskau und St. Petersburg spürte man schon vor knapp einem Jahrzehnt diesen Kater nach dem Konsum. In Tjumen wächst jetzt eine Generation heran, die sich den Luxus leisten kann, danach zu fragen, wozu das ganze Geld gut ist, ob es noch mehr gibt als Flachbildfernseher, BMWs oder Urlaub auf Bali.
Goscha hat dieser post-petrochemischen Verunsicherung mit seinem Superhelden "Tju-Man" einen Namen gegeben.
Goscha (eigentlich Georgij) Jelajew ist einer von ihnen. Der schmal gebaute Endzwanziger mit dem kurz geschnittenen Vollbart holt uns vom Hostel ab. Er ist eine kleine Berühmtheit der Stadt, seit er mit dem Comichelden „Tju-Man“ dieser post-petrochemischen Verunsicherung einen Namen gegeben hat. Der Superheld Tju-Man ist Goschas Alter-Ego, ein an sich zweifelnder Jungjournalist, der sich durch Zufall die „Kraft des Öls“ aneignet und mit den Superkräften sowohl sexuelle Erfolge feiert als auch den allmächtigen Bürgermeister bekämpft, der davon träumt, Tjumen zur idealen Stadt zu machen. Die Göttin erklärt ihm: „Hast du noch nicht verstanden, dass du jetzt mein bist so wie all diese bemitleidenswerten Leute, die nach Reichtum und Macht verlangten und dafür ihren Verstand und ihre Freiheit hergeben mussten?“ Tju-Man antwortet ihr: „Bei mir hast Du damit keine Chance.“
Der junge Russe ist auch ein Produkt der Propaganda, die in seinen Studentenjahren auf ihn einprasselte. „Ständig wurde uns eingebläut, dass wir eigene Projekte anstoßen sollen, dass die Welt voller Möglichkeiten ist, dass es nicht reicht, einfach einen Arbeitsplatz zu suchen und da zu arbeiten“. Es waren die Jahre nach der Finanzkrise von 2008, als Moskau der sibirischen Stadt die fetten Einnahmen aus der Ölfördersteuer wegnahm. Zwar ist noch immer genug Geld in der Stadt, aber die Botschaft, die die Regierenden aussenden, heißt seitdem: Steht auf eigenen Beinen.
Goschas Cousin ist noch den Weg gegangen, der für Tjumen üblich ist: Er hat Physik studiert, dann hat er angeheuert bei einem der großen Konzerne, jetzt verdient er ordentlich, hat Frau und zwei Kinder. „Aber wenn ich ihn treffe, dann merke ich, wie angespannt er ist, dass ihn das nicht zufrieden macht“, erzählt Goscha. Wir sitzen in einem gerade eröffneten Café an der Hauptstraße und trinken „Raf-Kaffee“, eine russische Kaffeeschöpfung. Die Romantik der frühen Ölförderjahre, mit der überhaupt der Aufstieg von Städten wie Tjumen begann, ist weg. An diese „glorreiche Zeit“, wie Goschas Professoren sie in den Vorlesungen nannten, erinnert ein Denkmal an der Hauptstraße von Tjumen: Da steht der Geologe Raul-Jurij Ervier im Rollkragenpulli und schweren Stiefeln, die Brust rausgedrückt, die Hand auf einem Stein, in den sich ein Bohrkopf bohrt.
Aber wenn Goscha an Öl und Gas denkt, dann fällt ihm die Klimaerwärmung ein, die Umweltzerstörung, zu der die Ölförderung führt, die Frage: Was kommt nach dem Ölzeitalter?
Aus all diesen Leuten, die wir treffen, sprudelt so großes Interesse an unserer Weltsicht, so wilde Neugier, so viel Wunsch, Gedanken mit uns zu teilen, dass wir nach ein paar Stunden ins Hostel fliehen müssen, um uns auszuruhen.
Er dagegen träumt von Selbstverwirklichung. Goscha hat erst den Job in der Presseabteilung der Uni geschmissen, dann den in einer lokalen Druckerei – um „was eigenes“ zu machen. Das „Eigene“ ist ein kleiner Comicladen, den er in einem Café betreibt. Und ein Comicfestival, das er in diesem Frühjahr erstmals in der Stadt organisiert hat, zu dem sogar ein Comicverleger aus Riga kam. Für Moskau und St. Petersburg, wo jedes Wochenende Festivals mit internationalen Gästen stattfinden, wäre das nichts besonderes. Für Tjumen war das ein Event: „Da kamen auch ganz viele Leute hin, die eigentlich nichts mit Comics zu tun haben, die aber interessiert sind an neuem.“ Die Menschen von Tjumen sind hungrig.
Ein paar tausend Euro dafür kamen von der städtischen „Abteilung für Jugendpolitik“, die solche Initiativen unterstützt – aber Goscha nahm auch einen Kredit auf, den er bis heute abbezahlt. Andere nehmen Kredite auf, um Autos zu kaufen. Goscha steht symptomatisch für diese Schwelle, an der diese Stadt steht.
Wir treffen Goschas Freunde, auch sie Comiczeichner, die sich daran quälen, einen eigenen Zeichenstil zu finden, die nicht einfach nur Manga-Comics kopieren wollen, obwohl das derzeit das einzige ist, womit man in Russland Geld verdienen kann. Wir laufen durch die ganze Stadt zu einem kleinen Buchladen im Hauptgebäude der Universität, der eine unglaubliche Auswahl internationaler Literatur über Kultur, Geschichte und Architektur bietet – den betreibt die junge Darja Nowikowa. Ihr Geld verdient sie mit PR-Texten für die Uni, ihre Seele gehört dem kleinen Buchladen. Aus all diesen Leuten, die wir treffen, sprudelt so großes Interesse an unserer Weltsicht, so wilde Neugier, so viel Wunsch, Gedanken mit uns zu teilen, dass wir nach ein paar Stunden ins Hostel fliehen müssen, um uns auszuruhen.
Was sollen die Studenten mit dem kritischen Denken anstellen, wenn sie nach dem Abschluss zurück in die russische Wirklichkeit kommen?
Seit einem Jahr drehen sich Leute wie Goscha und Darja um ein neues Zentrum, um einen Ort, der ihnen Inspiration gibt: Innerhalb der staatlichen Universität wurde im letzten Herbst die „School of Advanced Studies“ eröffnet. Um zu verstehen, wie abgefahren dieser Ort ist, muss man die russische Durchschnittsuni mit ihren verstaubten Hörsälen und verkrusteten Strukturen kennen. Die vier Etagen der „SAS“ erinnern eher an eine Entwicklungsabteilung von Google. Es gibt nur Glastüren, überall kleine Sitzecken für Gruppenarbeit, die Möbel sind bunt, und ebenso bunt ist das Curriculum. Die letzte offene Vorlesung hieß „Love and Law“. Auf dem Lehrplan steht: „Great Books: Philosophy and Social Thought“, „Quantitative Methods“, „Writing and Thinking“.
Und Goscha hat gerade in der Summer School für die Schüler der Stadt ein Seminar mitgeleitet. Es hieß „Limited Future and human limitations“. „Das war für diese 16-Jährigen, die aus unseren Schulen kommen, absolut mind-blowing“, erklärt er. Genau das schreibt sich die SAS auf ihre Fahnen: Die Studenten sollen lernen, kritisch zu denken.
Aber wer zum Teufel finanziert diesen postmodernen Kram in Tjumen?
Zum einen stammt das Geld aus einem staatlichen Programm namens „5 von 100„: Die russische Regierung will erreichen, dass es fünf russische Unis unter die 100 besten in den internationalen Rankings schaffen. Ausländische Dozenten sollen nach Russland geholt werden, damit die Studenten lernen, auf Englisch zu publizieren. Die SAS leistet sich deshalb Dozenten aus Belgien, den USA, Großbritannien und Irland.
Den zweiten großen Batzen gibt, man höre und staune, Gazprom: An der Schule studieren Masterstudenten aus den technischen Bereichen, die hier soft skills lernen sollen. Wir kommen ins Gespräch mit einer Gruppe von Studenten aus den unterschiedlichsten Regionen Russlands, einer kommt sogar aus Usbekistan. Sie erzählen mir begeistert davon, was sie hier über Teambuilding, Gruppenarbeit und Kommunikation lernen. Wollen sie in Tjumen bleiben nach dem Studium? Einhellige Antwort: Ja.
Die SAS soll die talentierten jungen Menschen davon abhalten, nach Moskau, St. Petersburg oder ganz ins Ausland abzuwandern. Tjumen soll nicht mehr nur „Pit Stop“ sein auf dem Weg in die große weite Welt. Und vorerst scheint es zu funktionieren.
Im „Lab“, dem Computerraum, treffen wir den 27-jährigen, langhaarigen IT-Fachmann Alexander Gorbatschow, der gerade zwei Jahre in den USA studiert hat und unsere Fragen mit breitem amerikanischen Akzent beantwortet: „Ich hätte da meinen PhD machen können, aber ich habe mich dagegen entschieden. Dieses Projekt hier ist interessanter.“
„Andererseits“, sagt Goscha, „stellt sich die Frage, was die Studenten mit ihrem kritischen Denken anstellen sollen, wenn sie nach dem Abschluss zurück in die russische Wirklichkeit kommen?“
Am Donnerstagsabend verabreden wir uns mit Goscha in einer Art Kulturfabrik außerhalb des Zentrums: In einer ehemaligen Möbelfabrik hat eine Bar eröffnet, die komplett karaoke-frei ist, aber zwischen deren Backsteinwänden man ausgezeichnete Cocktails trinken kann. Im ersten Stock gibt es Ateliers, in einem kleinen Kino schauen gerade ein paar junge Leute „Die Vögel“ von Hitchcock.
Orte wie diese, die es in Moskau heute an jeder Ecke gibt – unvorstellbar in Tjumen bis vor wenigen Jahren. Ein Lackmus-Test für die Stadt wird sein, was mit der „runden Banja“ passiert, einem außergewöhnlichen Badehaus aus den frühen Jahren des sowjetischen Konstruktivismus. Seit Jahren verfällt das Gebäude, und schon einmal wollte die Stadt es abreißen. Aber eine Gruppe junger Leute stellte sich nackt vor die Eingangstür, auf ihren Plakaten stand „Hört auf, die Geschichte der Stadt auszuziehen.“
Ist Tjumen eine typisch postsowjetische Stadt, dann reißt ein Investor das Gebäude ab und baut ein Einkaufszentrum. Schaut Tjumen in die Zukunft, dann wird das Gebäude renoviert und zu einem Kulturzentrum, oder die SAS zieht ein, was auch immer.
Goscha arbeitet derweil daran, die Grenzen des Möglichen zu erweitern. Die „Abteilung für Jugendpolitik“, die ihm schon Geld für sein Comicfestival gegeben hat, will von ihm einen Comicband über die Probleme der Jugend. Goscha überlegt, ob er darin die Probleme von jungen Homosexuellen beschreiben soll, die sie in einer Stadt wie Tjumen mit ihrer Sexualität haben. Aber was ist mit dem „Gesetz gegen die Propaganda von Homosexualität“, das die Staatsduma vor einigen Jahren erlassen hat? Wie geht das zusammen? „Vielleicht ist so etwas in Tjumen sogar einfacher als in Moskau oder St. Petersburg“, glaubt Goscha.
Letzter Morgen in Tjumen. Kristina, eine junge Verkäuferin in der Bäckerei unter unserem Hostel hatte mich angesprochen, ob ich mal eine Stunde Zeit für sie hätte. Fürchterlich aufgekratzt ist sie, als sie mir jetzt erzählt, dass sie eigentlich Kunst studiert, aber ansonsten Geschichten sammelt und nacherzählt. Sie fragt mich aus bis auf die Unterhose, über die Liebe, über mein Leben, über Philosophie. Aus dieser 20-Jährigen spricht so viel Neugier, so viel Lebenshunger, dass auch der Christian sie sofort ins Herz schließt. Zum Abschied schenkt sie mir eine Tafel Schokolade. „Die großzügige Seele Russlands“ steht darauf. Kristina hat noch ein rotes Bändchen darum gebunden. „Damit du dich an Russland erinnerst.“ So verabschiedet uns Tjumen, diese hungrige Stadt.
Goscha Jelajews Comic über den Superhelden „Tju-Man„. Von der „Ölgöttin“ nimmt er die magische Kraft des Öls in Empfang. Der Text der Reklame: „Hallo Kinder, ich bin das Tjumener Benzinchen! Mit mir machen eure Eltern die Tanks ihrer Autos voll, mit denen sie dann im Stau stehen und fluchen.“
Danke, David!
Die Reise ist nicht immer spaßig, aber wenn wir lesen, dass es sich lohnt, freuen wir uns.
Grüße
Moritz
Dankeschön, Daniela! Und das ist noch nicht alles 🙂
Moritz
Lieber Thomas Hentzschel, das ist für eine komplett programmierte Webseite mit Logo und Design eher unteres Mittelfeld. Christian Frey hat das alles selber gebaut, nicht nach Baukastenprinzip, und viel Zeit und Mühe investiert. Das sollte honoriert werden. Damit wollen wir auch deutlich machen, dass die Arbeit nicht mit dem ersten Reisetag begonnen hat, sondern lange vorher.
Ansonsten danke für das Lob und die Wünsche!
Grüße
Moritz
Geile Reise und schöner Artikel, Gratulation!
Aber warum war die Website so arg teuer?
Euch weiter viel Erfolg und Spaß –und trinkt nicht so viel ;–))
Vielen Dank für die interessanten Einblicke!
Danke für diesen tollen Artikel! Eine schöne Sonntags-Lektüre und bislang das Stück, das mir am besten gefallen hat – mag aber auch an dem sympathischen Protagonisten liegen! 😉
Weiter so und viel Spaß euch noch!
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