Der Medici von Mari El

Von Wladiwostok bis Minsk, noch bis in die Vororte Ostberlins hinein: Die Sowjetunion hat einen grauen Einheitsbrei an architektonischem Erbe hinterlassen – vor allem Plattenbauten unterschiedlicher Couleur und meist schlechter Qualität, daneben hochwertige Gebäude im sogenannten sozialistischen Klassizismus wie die Frankfurter Allee in Berlin, und ein paar wenige Meisterstücke des Konstruktivismus aus den 20er Jahren.

Die meisten russischen Städte sehen sich deshalb heute zum Verwechseln ähnlich. Nicht so Joschkar-Ola, Hauptstadt der Minirepublik Marij-El.

"Den schändlichen Gang des Lebens unterbrechen, in den Köpfen den Sonnenaufgang säen, die Menschen dazu bringen, sich zu verändern, und eine stürmische Bewegung hervorrufen: die Renaissance in den Mari-Landen." Leonid Markelow

So sieht tatsächlich das Zentrum dieser verschlafenen Provinzhauptstadt mit ihren 250.000 Einwohnern aus: Die Uferstraßen heißen „Brügge“, „Amsterdam“ und „Auferstehung“. Joschkar-Ola hat einen Kreml, eine Kathedrale, einen italienischen Platz, ein Denkmal für den Schriftsteller Gogol und für Lorenzo de‘ Medici, für Rembrandt und den russischen Patriarchen. Gebaut wurde das alles in den letzten zehn Jahren. Aber der Reihe nach.

Die Republik Mari El ist etwa so groß wie Mecklenburg-Vorpommern, aber noch dünner besiedelt: Die Einwohnerzahl sinkt konstant seit Beginn der 90er Jahre. Von 760.000 sind heute nur noch 680.000 Menschen übrig, die meisten davon Russen oder Angehörige des finno-ugrischen Volksstamms der Mari. Industrie gibt es kaum, in der waldreichen Region lebt man vom Möbelbau und der Landwirtschaft.

Joschkar-Ola war schon zu Sowjetzeiten finsterste Provinz. Aber mit dem Aufstieg des an Rohstoffen reichen Kasans, keine 200 Kilometer südlich gelegen, wurde der Kontrast noch krasser. Ein Glück, dass im Jahr 2001 Leonid Markelow Präsident der Republik wurde. Ein Präsident, der Gedichte schreibt und Italien liebt.

Während die 90er Jahre in Mari El der ohnehin schwachen Industrie den Rest gaben, fuhr der junge „bisnesman“ Markelow Anfang der 90er Jahre zum ersten Mal nach Venedig – und verfiel der Renaissance. „Als ich in Venedig auf den Markusplatz trat, schien die Sonne. Diese großartigen Gebäude! Und als hätte ich ein Glas guten Weins ausgetrunken, wurde mir schwindlig, in meinen Schläfen pochte es.“ Markelow hatte sein Erweckungserlebnis. Er, Leonid Markelow, wollte der Lorenzo de‘ Medici von Joschkar-Ola werden.

Nach einigen Misserfolgen wurde er schließlich 2001 Präsident seiner Republik und setzte nun seinen Plan in die Tat um: Wir holen uns Europa nach Mari El!

Markelow beschrieb seine Mission in Versform:

„Den schändlichen Gang des Lebens unterbrechen,
in den Köpfen den Sonnenaufgang säen,
die Menschen dazu bringen, sich zu verändern,
und eine stürmische Bewegung hervorrufen:
die Renaissance in den Mari-Landen.“

Gegenüber seiner Republikverwaltung aus Sowjetzeiten ließ Markelow ein Gebäudeensemble hochziehen, das dem Markusplatz in Venedig nachempfunden sein soll. Allerdings bröckelt zehn Jahre nach der Errichtung schon der Putz.

Die Renaissance begann Leonid Markelow 2007 mit dem florentinisch anmutenden Hotel „Ludovico Monro“, wie im Falle von Lorenzo de‘ Medici sind die Initialen L.M. kein Zufall, und das Hotel gehört bis heute seiner Familie. Gleichzeitig entstand gegenüber der Gebietsverwaltung ein Gebäudekomplex, der den Markusplatz in Venedig imitieren soll, und der heute die Kunstgalerie der Republik beherbergt. Zentrum des Gebäudes ist ein Turm mit einer Uhr, aus der zu jeder vollen Stunde die Figur der Gottesmutter erscheint, dazu ein Esel, der eine Ikone trägt – Symbol für die Ankunft des Christentums bei den heidnischen Mari.

Aber Markelow wollte mehr. Also ließ er das Ufer des Flüsschens Kokschaga im Stadtzentrum einmauern, alle Häuser und Bäume drumherum plattmachen, und errichtete dort sein kleines Europa, diese Mischung aus Holland, Belgien, Italien und ein wenig Russland. Wie der Chefarchitekt der Stadt jüngst eingestand, entschied Markelow persönlich, was in welchem Stil gebaut werden sollte – inspiriert von seinen Reisen nach Europa.

Um zu verstehen, was Markelow mit dieser Stadt getan hat, schaue man sich hier mal ein paar Bilder davon an, wie die Uferzone des Kokschaga noch vor einigen Jahren aussah.

Zu Markelows Verteidigung sei gesagt – er ist nicht allein. Russische Architekturhistoriker sprechen inzwischen von „Wolga-Kitsch“, um die Tendenz zu pseudoeuropäischem Eklektizismus in den Städten an der Wolga zu beschreiben. Paradebeispiel ist der „Palast der Ackerbauer“ in Kasan: eine krude Mischung aus Wiener Hofburg, Petit Palais und dem Vittoriano in Rom – gebaut im Jahre des Herrn 2010. Aber so radikal wie Markelow war niemand.

Was zu erhalten wäre, verkommt oder wird verhunzt.

Die Renaissance von Joschkar-Olga wurde laut russischen Medien zum Teil aus dem Staatsbudget sowie mit erzwungenen Tributen lokaler Geschäftsleute finanziert, die Markelow Beistand in seiner großen Mission der Renaissance schwören mussten. Mehrere Firmen, die an der Wiedergeburt mitbauen durften, gehörten seiner Frau.

Aber was für eine „Wiedergeburt“? Keines dieser Gebäude hat auch nur irgendeinen Bezug zu Joschkar-Ola. Selbst der Kreml ist fake – im Unterschied zu Nischnij Nowgorod oder Kasan hatte die Stadt nie eine eigene Festung.

Und während das Stadtzentrum nun glänzt wie Disneyland, beginnt hinter den Kulissen die Tristesse. Der Großteil der sowjetischen Wohnhäuser ist unrenoviert wie eh und je, die Innenhöfe verwandeln sich nach Regengüssen in Sümpfe, die Treppenhäuser stinken nach Moder und Piss.

Was zu erhalten wäre, verkommt oder wird verhunzt. Da ist zum Beispiel das Kino Rossija direkt hinter der „Uferstraße von Brügge“, ein an konstruktivistische Zeiten erinnernder Backsteinbau von 1988, der völlig verkommen ist. Da sind ehemals hübsch verzierte Holzhäuser und einige wenige Steinhäuser aus der Zarenzeit, deren Mauern mit billigen Fassaden verdeckt werden, anstatt sie herauszuputzen.

Markelow sitzt seit 2017 im Gefängnis. Er schreibt weiterhin Gedichte. Zum Beispiel an Putin.

Und was ist aus der Renaissance geworden?

Jugendliche fahren Fahrrad auf der Uferstraße, Mütter gehen mit ihren Kindern spazieren, ein paar Touristengruppen machen Selfies. In den Häusern der Uferstraße sind vor allem Ministerien und andere staatliche Institutionen untergebracht, aber viel steht leer, darunter auch Markelows Residenz direkt neben der Kathedrale. Derzeit wird darüber gestritten, wer eigentlich Eigentümer der Gebäude ist – die Baufirmen oder die Stadt? Was wiedergeboren werden sollte, wirkt tot.

Echtes Stadtleben ist anderswo, da, wo es nicht so geleckt ist. Da bieten die russischen Omis ihre Walderdbeeren an, Kwas wird aus Fässern verkauft, Eis aus Kühltruhen auf der Straße. So ist es eben, das provinzielle Russland.

Weil billig gebaut wurde, bröckelt an dem 2007 fertig gebauten Palast gegenüber der Gebietsverwaltung schon der Putz, aus den Fenstersimsen fallen erste Steine, und an der Uferstraße rosten die Geländer vor sich hin. Ein paar Dutzend Gebäudehüllen warten auf ihre Fertigstellung. Wohl vergeblich.

Denn mit der Renaissance ist vorerst Schluss. Republikpräsident Markelow wurde im Frühjahr 2017 wegen der Annahme von gut drei Millionen Euro Schmiergeld verhaftet und wartet seitdem in Moskau auf seinen Prozess. Aber er schreibt weiterhin Gedichte. Zum Beispiel an Putin.

„Ich hab alles liegenlassen,
war bereit, für euch zu dienen,
aber heute haben meine Kinder
nichts mehr zum leben.

Mein Gram ist kaum zu messen,
doch um ehrlich zu sein,
glaube ich weiterhin
an den gerechten Zaren.“

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